Rätselgedichte
keiper lyrik, Band 2
Edition Keiper, Graz 2012
Rätselgedichte haben eine lange Tradition, die bis in die Antike zurückreicht, sie tauchten etwa immer wieder in Märchen als Fragen auf, von deren Beantwortung das Schicksal der befragten ProtagonistInnen abhängt, sie waren aber auch als eigenständiges lyrisches Genre weit verbreitet. Meist bestehen sie aus Umschreibungen, die auf Fokussierungen auf wenig beachtete Aspekte des mit dem Lösungswort Gemeinten unter gleichzeitiger Ausblendung von anderen, vertrauteren, beruhen. Und zu beachten sind bei dieser Form stets auch auch die sprachkreativen und sprachreflexiven Elemente. Helwig Brunner transponiert das Rätselgedicht auf höchst gelungene Weise in die zeitgenössische Lyrik, indem er äußerst dichte, sprachlich spannungsvolle Wort-Gefäße kreiert. Denn was ist Lyrik anderes als Fragen zu stellen, zu verdichten, zu fokussieren und auf hoch konzentrierte Weise auf Unbeachtetes hinzuweisen?
Gefragt wird nach „Dingen” oder vielmehr: Die „Dinge” werden gefragt – welche, das wird hier nicht verraten und es lohnt sich auch, beim Lesen die gleichsam als umgekehrte Überschriften unter den Gedichten angegebenen Auflösungen zunächst verdeckt zu halten. Nur so viel: Es handelt sich um Vertrautes oder scheinbar Vertrautes, das die Menschen ständig umgibt, im Alltag, im Leben. Und die Fragen verschleiern nicht, im Gegenteil, sie erhellen und legen Schichten frei: „Ich bin, was du meinst / wenn du sagst, was du denkst, / bin der Punkt am Ende deiner / asymptotischen Rede, die lange / und länger ins Leere läuft, / ohne ihn ganz zu erreichen.” (104)
Und das Beispiel zeigt: Das Ich steckt hier in den Dingen, wie beispielsweise in manchen Rätselgedichten von Franz Brentano, und dieser geschickte Perspektivenwechsel, ja die Perspektivenumstülpung wird avanciert poetisch genutzt. Dadurch erhält der Titel „Die Sicht der Dinge” auch zwei Blickrichtungen: die des Subjekts und die der Dinge. Poesie und Philosophie gehen hier eine überaus fruchtbare Einheit ein. Seismografisch wird die Sprache ausgelotet, die konsequenten Personifizierungen, die Hinweise auf Formkongruenzen und die Verschränkungen von vermeintlichen Gegensätzen schaffen poetische Welten von eindrucksvoller Vielschichtigkeit. Helwig Brunners Rätselgedichte bauen tragkräftige Brücken zwischen Denken und Ding, die überaus viel von den Erscheinungen des kantischen Dinges an sich festhalten und transportieren und dadurch eine Fülle an überraschenden Eindrücken und Einsichten liefern.
Günter Vallaster