Jung und Jung Verlag
Salzburg 2012
Die Nachschrift zu seinem „Liebes-Nichtroman“, so sagt es der Erzähler, soll Platz finden in „gleich kleinen Schreibblöcken“. Als Vorbild schwebe ihm ein Aquarellist vor, der täglich, etwa zur gleichen Stunde, Wolkenstimmungen festhält. Nicht ein einziges Blatt solle, für untauglich befunden, aus dem Heft herausgerissen werden. Gröbere Korrekturen versagt sich der Erzähler in Julian Schuttings Liebesjahresbuch „Die Liebe eines Dichters“. Allenfalls der Minenabrieb des zum Schreibutensil bestimmten Bleistifts dürfe „heimlich wegradiert“ werden.
Eine solche Schrift wie die von Schutting als dem Chronisten einer großen, unwandelbaren Liebe in Aussicht gestellte darf nicht allein als eine auf Papier verzeichnete angesehen werden. Ihr eigentliches Trägermedium ist die Liebe selbst: der Überlieferung zufolge der flüchtigste aller Stoffe, der im Sog des bipolaren Geschehens die Gegenstände umfließt, ihren Eigensinn bricht und sie in das Feld der Liebesbedeutung eingliedert.
Erst die Übermacht der Liebe, die Erfahrung einer Unbedingtheit, die sich um die schnöde Frage nach „Erfüllung“ gar nicht schert, erzeugt jenen Sog, der das Geschäft der Dichtung als Beziehungsmitschrift über Jahre hin rechtfertigt (in dem Buch sind es deren sechs). Und manchmal, wenn die Liebe alle Begriffe übersteigt, klammert sie sich an Erscheinungen, die ihrem Drängen Halt verleihen. In Julian Schuttings Prosabuch ist es das Ave- oder Angelusläuten, das dem Autor den Weg zur Geliebten weist. Während die Kirche im 19. Wiener Gemeindebezirk die Glocken in Schwung hält, eilt der Erzähler los, um an der Haustür des begehrten Wesens zu klingeln.
Im Medium der Schrift werden die Orte der Begegnung verzeichnet: jene kostbaren Gelegenheiten, deren Verpassen mitunter reines Glück bedeutet. Schutting ist der große Dichter des Minnens, nicht des Meinens. Er ist der Erzeuger einer Intimität, die sich in Zeiten von „YouPorn“ und Web-Dating zu nichts gebrauchen lässt, weil in ihr die merkwürdige Dialektik von Fernsicht und Nahgefühl zugunsten der Schrift und der Dichtung synthetisiert wird. Es versteht sich beinahe von selbst, dass in diesem delikaten Erzählkosmos jeder Voyeurismus flach fällt. Die huldigende, hohe Minne bleibt im postheroischen Zeitalter auf den Alltag verwiesen. Sie ist ein saures Geschäft, weil sie auf keine Meriten hoffen darf.
Wer sich heutzutage von Liebesgefühlen stressiert fühlt, sieht sich allenfalls auf die Segnungen der Paartherapie verwiesen – wobei die Pointe vielleicht darin liegt, endlich jemanden gefunden zu haben, der einen händchenhaltend in die Arztpraxis begleitet. Den Liebenden in unseren Breiten wird, mit Rücksicht auf das in mittlere Gemütslagen zu investierende Seelenkapital, bestenfalls ein vorläufiges Gelingen attestiert. Auf dergleichen Einschränkungen darf in Schuttings Liebesbüchern verzichtet werden. Die geliebte Person, mit der er, der Erzähler, die Vorliebe für Botanik teilt, für die klassische Musik, für ausgedehnte Wanderungen im Weichbild von Wien, ist ihm als Phantasma das selbstverständlichste Rätsel auf der Welt. Und je genauer sich der Autor in den Lobpreis ihrer Vorzüge vertieft, desto rätsel-, auch spukhafter erscheint ihm die „adoratio“. Beschwerlich ist die Liebe eines Dichters sowieso.
Indem aber das erzählende Ich unter vernehmlichem Zähneknirschen die Hoffnung auf Erfüllung preisgibt, eröffnet sich ihm erst das Reich poetischer Freiheit. Das Wort „Sublimierung“ kommt ihm zwar nicht über die Lippen; aber die handfeste Liebe achtet er darum nicht gering: „Die hohe Minne ist das Artefakt. Die niedere Minne, das ist das Bauernmädel.“
Zuletzt noch ein Hinweis mit Blick auf dieses große, großartige, bestürzend unzeitgemäße Buch. In seinem Dialogtext „Aufhellungen“ aus 1990 hatte Schutting das Lieben unmittelbar an ein Gegenüber adressiert – halb war es die unwandelbare Geliebte, halb die Wandelbarkeit der Sprache selbst, die er anrief. „Nun aber sei dir / längst Verschattetes und Verblasstes / in mir zu einer Erhellung / zusammengeflossen der Liebe …“, schrieb er da – damit „die nicht für immer entschwundene Liebe / zu einem Bild ihrer selbst sich entwickle (…)“. Die Wahlverwandtschaften sucht man sich, entgegen dem Klischee, nicht aus – das wusste schon der Liebesphysiker Goethe. Aber Schutting hat den Zusammenhang ins Richtige verkehrt. Während in Goethes „Wahlverwandtschaften“ die einander ehelich Umarmenden während des Liebesaktes jeweils einen verbotenen Dritten im Sinn haben, was zu Schlamassel und großem Unglück führt, da weiß der Wiener Dichter die Promiskuität andernorts wirksam – in der Sprache nämlich. „… anders als die, welche heimlich / an einen Hauptmann, an eine Ottilie denken,“ schreibt er, „sind wir wir selber geblieben / und haben, / wach fremde Wunsch- und Angstbilder teilend, / immer nur uns beide gemeint …“.
Es ist diese Idee der Teilhabe, die den Kosmos des Dichterischen öffnet. Was für ein Glück, dass Julian Schutting ihn, indem er ihn für uns erkundet, mit uns teilt.
Ronald Pohl
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